Kriegerdenkmal Germania Fallersleben
Von Maik Ullmann
Einst thronte auf dem Sockel des Waterloo-Denkmals in Fallersleben eine Urne, doch wurde diese am 26. Oktober 1876 durch eine Germania-Figur ersetzt. Von nun an sollte das am 8. Juni 1817 der Schlacht bei Waterloo und ihren Gefallenen geweihte Denkmal auch „an die glorreichen Siege von 1870–1871“ erinnern, wie die Aller-Zeitung am 3. November 1876 festhielt.[1] Mit dem Bau des Denkmals, dessen Kosten weitestgehend durch die Bevölkerung und den lokalen Landwehrverein getragen wurden,[2] setzte diese ein markantes Zeichen ihrer Zugehörigkeit zum Kaiserreich. Die Germania ist in diesem Zusammenhang eine Ausdrucksform des Nationalismus, wie sich letztlich auch während der Einweihungsveranstaltung zeigte: Ob durch das Hissen der deutschen Fahne durch die Fallerslebener Bürger, das Anreisen von Vertretern zahlreicher Kriegervereine oder das Veranstalten eines Fackelzugs [3] – die Beiträge zur großangelegten Eröffnung des Denkmals fanden vielgestaltigen Ausdruck.
Mit der durch den Halleschen Bildhauer Emil Schober [4] gefertigten Figur der Germania sollte folglich auch des Deutsch-Französischen Krieges gedacht werden, an dessen Ende die Proklamation des Deutschen Kaiserreiches im Spiegelsaal von Versailles erfolgte. Aus ebendiesem Grund wäre die Germania nach dem Kriege beinahe aus der Wolfsburger Denkmalslandschaft verschwunden.
Denn im Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 waren die Entnazifizierung wie auch die Entmilitarisierung Deutschlands als zwei wesentliche Beschlusspunkte festgehalten. Die Folgen dieser durch die Siegermächte getroffenen Übereinkunft machten sich innerhalb der deutschen Erinnerungskultur der Nachkriegszeit deutlich bemerkbar – auch in Fallersleben. In einer Verfügung vom 26. August 1946 forderte die Militärregierung des Kreises Gifhorn ihre Ortschaften zur sofortigen Angabe aller Denkmäler und Museen auf, deren Intention es sei, „den Militarismus wieder zu erwecken oder der Nazipartei zu gedenken“.[5] Neben dem Waterloo-Denkmal, einem Gedenkstein für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges, einer gläsernen Gedenktafel für die gefallenen Feuerwehrmänner selbigen Krieges und einer Beutekanone aus dem Jahr 1915, listete der damalige Fallerslebener Stadtdirektor Daniel Hill auch die auf dem Denkmalplatz stehende Germania. Ein durch die Gemeinde eingesetzter Ausschuss schlug sogar deren Entfernung vor. Lediglich der Sockel sollte verbleiben.[6] Laut einem kurzen Vermerk vom 20. Dezember 1946 sei jedoch „eine weitere Entscheidung bisher nicht ergangen“. An dieser Stelle setzt der diesbezügliche Schriftwechsel aus; die Germania steht auch heute noch an Ort und Stelle.
Die Gründe dafür liegen vermutlich in einer bereits am 12. Mai 1932 erfolgten Umgestaltung des Denkmals, deren konkrete Umstände jedoch nicht mehr zu eruieren sind. An diesem Tag erhielt die Germania einen neuen Sockel – der alte Sockel des Waterloo-Denkmals wurde in den Schlosspark verfrachtet und konnte von nun an in seiner Ursprungsform wieder für sich selbst stehen.[7] Der neue Germania-Sockel wiederum erinnerte nun nicht mehr an „die glorreichen Siege“ sondern trägt folgende Inschrift: „Den tapferen Helden ihre dankbaren Mitbürger“. Zusätzlich wurden 1932 auch die Namen der 25 Fallerslebener Soldaten auf dem Sockel verzeichnet, die 1870/71 gegen Frankreich ins Feld gezogen waren. Ebendiesen und ihrem Einsatz im Kampf war schließlich das von einem Lorbeerkranz umschlungene Eiserne Kreuz gewidmet. Der Auflistung zufolge kam keiner der Soldaten während der kämpferischen Auseinandersetzungen ums Leben. Aus den Fallerslebener Ratsprotokollen geht allerdings hervor, dass „ein Müllergesell“ [8] im Zuge der Gefechte ums Leben gekommen sei. Bei diesem handelte es sich um „Th. Lehn“, der auf dem Sockel als „verwundet“ gekennzeichnet ist, laut „Amt-und-Landwehrverein“ jedoch gefallen war.[9]
Aber was hat es eigentlich mit dem Symbol der Germania selbst auf sich? Im ausgehenden 18. Jahrhundert wiederbelebt, erfuhr sie bis 1945 zahlreiche Neuinterpretationen. Die Figur erwies sich als ein wandelbares Medium, das wiederholt an die jeweilige vorherrschende Ideologie angepasst wurde.[10] Galt sie in den Jahren vor den Befreiungskriegen noch als antimonarchisches, bürgerliches Symbol, wurde sie 1814 durch den preußischen König Friedrich Wilhelm III. zur monarchisch-vaterländischen Allegorie.[11] Dabei war es der erst während der Renaissance wiederentdeckte römische Historiker Tacitus, der die neuzeitliche Rezeption der Germania maßgeblich prägen sollte. Es waren die durch ihn beschriebenen Sitten, insbesondere die Moral der Germanen, auf die im 19. Jahrhundert immer wieder rekurriert wurde. Im Streben, sich bewusst von anderen Nationen abzugrenzen, war die Germania eine unerlässliche Konstruktion für das neu entstandene Nationalbewusstsein: Die Deutschen suchten nach einem Symbol, das ihrer Identität und der geschaffenen Einheit Ausdruck verleihen konnte. Es war die Figur der Germania, die ebendiesen Zweck erfüllte.[12] Nach der Reichsgründung, im Zuge der Planung des gewaltigen Niederwalddenkmals, das als Demonstration deutscher Einigkeit gelesen werden sollte, erfuhr das Nationalsymbol eine erneute Umdeutung. Noch während der 1860er Jahre eher kriegerisch und mahnend gen Frankreich blickend dargestellt, wurde sie nach 1871 überwiegend siegreich posierend und mit den Reichsinsignien versehen figuriert.[13] Der Denkmalcharakter der Germania war nun weniger militaristisch; vielmehr erinnerte sie als nationales Denkmal an die Gründung des Deutschen Kaiserreichs.
Da die Germania in Fallersleben in jenen 1870er Jahren errichtet wurde, liegt es nahe, sie in diesem Rahmen zu betrachten: Mit dem auf ihrem Kopf ruhenden Reichsadler, ihr Schwert siegreich in den Himmel streckend, schaut sie ganz im Zeichen ihrer mythischen Herkunft stolz Richtung Norden. Die gewählte Himmelsrichtung, die bewusst im Kontrast zu früheren Darstellungen steht, in denen sie ihren Blick nach Westen richtete, verdeutlicht, dass der Krieg Geschichte war, das Volk im Frieden mit Frankreich lebte.[14] Die Last der Ketten, einst noch durch die Römer, später erneut von den Franzosen auferlegt, hatte sie nun endgültig abgelegt: die Germania war vollends befreit von jeglichem Joch. Gleiches galt für die deutschen Einzelstaaten. Erst der Sieg über Frankreich im Frühjahr 1871 ermöglichte die Gründung des Deutschen Kaiserreiches, frei von jedweder Fremdherrschaft. So ist die Fallerslebener Germania als ein Symbol für den erreichten Frieden zu deuten, das noch einmal besonders durch den ihren Kopf zierenden Lorbeerzweig hervorgehoben wird.[15]
Gekleidet ist die Germania in ein sagum, einem römischen Manteltyp, den Tacitus für die Germanen irrtümlich als charakteristisch ansah.[16] Ein darüber getragener Brustharnisch schützt den Oberkörper. Zeigten spätere Germania-Darstellungen diese erneut mit erhobenem Schild, den Feind in kriegerischer Haltung erwartend, hält die Fallerslebener Germania das gesenkte Schild mit ihrer linken Hand schlicht am oberen Rand fest, als sei ihr bewusst, dass in nächster Zeit kein Gegner abgewehrt werden müsse. Es zeigt neben dem preußischen Adler auch die goldene Reichskrone. Der Legende nach wird sie auf die Kaiserkrönung Ottos des Großen im 10. Jahrhundert zurückgeführt.[17] Im späten 19. Jahrhundert galt sie aufgrund dieser vermeintlichen Kontinuitätslinie als Inkarnation des Reichsgedankens nach Gottes Wille. Das Schild ist getreu den Farben des Deutschen Bundes und der späteren Reichsfarben Schwarz, Weiß und Rot gestaltet. Das gewachsene Zusammengehörigkeitsgefühl der nun gesamtdeutschen Bevölkerung fand in Fallersleben durch das Setzten dreier Eichen links, rechts und hinter der Germania sichtbaren Ausdruck. Denn diese waren in germanischer Tradition, auf die sich die deutsche Gedenkkultur in zahllosen Varianten berief, sowohl Zeichen für den Frieden, als auch verschiedener deutscher Tugenden wie Ehre oder Mut.[18] Ebendieses konstatierte der damalige Superintendent des Ortes, August Althaus, in seiner Rede zur Eröffnung des Denkmals am 26. Oktober 1876: Der gewaltige Krieg habe „wieder ein starkes Deutsches Reich und einen deutschen Kaiser“ hervorgebracht.[19] Dessen ungeachtet könne das deutsche Volk jedoch nicht im Krieg, sondern allein im Frieden zum Leben finden.
Innerhalb der Fallerslebener Erinnerungskultur hatte sich die Germania alsbald etabliert. Im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts findet sie sich als zentrales Motiv auf zahlreichen Postkarten.[20] In der heutigen Gedenkpraxis spielt sie dagegen kaum noch eine Rolle. Innerhalb von 70 Jahren, im Wandel der Ideologien und politischen Strukturen, verlor die mythische Germania weitestgehend an Bedeutung. Auch die von ihr transportierte Botschaft ist längst überholt: Die Epoche der vielfach heraufbeschworenen vermeintlichen Erbfeindschaft mit Frankreich endete 1963 mit der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags.
Lediglich 1980 erregte das Denkmal noch einmal Aufsehen: „Schätze für Historiker gefunden“,[21] titelten die Wolfsburger Nachrichten am 28. August des Jahres. Am 18. August wurde die Germania unter heute nicht mehr zu rekonstruierenden Umständen beschädigt.[22] Dabei stieß ein Denkmalpfleger im Inneren der Figur auf eine Dokumentenrolle,[23] die zahlreiche Schriftstücke beinhaltete.[24]
Zu diesen zählten neben Zeitungsartikeln aus der Zeit der Grundsteinlegung des Denkmals und dessen Umgestaltung auch 191 Telegramme aus der Zeit zwischen Juli 1870 und März 1871, in denen über das Kriegsgeschehen in Frankreich berichtet wurde. Darüber hinaus fand sich ein Plakat der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter-Partei zur Wahl des 7. Reichstags (1932) in der Hülse, das das Konterfei Adolf Hitlers zeigte – ein frühes Bekenntnis zum Nationalsozialismus noch vor der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler. Zum Zeitpunkt ihrer Entdeckung wurde den Dokumenten indes keinerlei gesteigerte Aufmerksamkeit zuteil.[25] Sie wanderten einfach zurück in die Hülse, die wiederum im Inneren der restaurierten Germania ihren angestammten Platz einnahm. Kopien der Depeschen vom Kriegsschauplatz und des Wahlplakats wurden nicht angefertigt, sodass Teile der „Akte-Germania“ bis auf weiteres verschlossen bleiben müssen.
Quellen:
[1] „Fallersleben, 27. Octobr.“, in Aller-Zeitung vom 3. November 1876.
[2] Stadt Wolfsburg, Das Ratsbuch der Stadt Fallersleben (wie Anm. 5), S. 165; StadtA WOB, HA 9076, Amt-Landwehr-Verein zu Fallersleben, Nachrichten über das Denkmal, 21. Oktober 1876.
[3] „Fallersleben, 27. Octobr.“, in: Aller-Zeitung vom 3. November 1876.
[4] Mitteilung von Roland Kuhne, Stadtarchiv Halle, an den Autor vom 27. Oktober 2016.
[5] StadtA WOB, HA 10843, Bd. 1, An die Herren Bürgermeister im Kreise, Betrifft: Militärische Museen und Denkmäler, 26. August. 1946; Ebd., Herren Bürgermeister im Kreise, Im Nachgang zu meiner Verfügung vom 26. August. 1946, 4. Oktober 1946.
[6] Hier und im Folgenden Ebd., An den Landkreis in Gifhorn, Betr.: Militärische Museen und Denkmäler, 8. Oktober 1946.
[7] StadtA WOB, HA 9076, Handschriftlicher Vermerk Rektor Heinrichs vom 12. Mai 1932.
[8] Stadt Wolfsburg (Hg.), Annette von Boettcher (Bearb.), Das Ratsbuch der Stadt Fallersleben. 1547–1948. Braunschweig 2013, S. 165.
[9] StadtA WOB, HA 9076, Amt-Landwehr-Verein zu Fallersleben, Nachrichten über das Denkmal, 21. Oktober 1876.
[10] Lothar Gall, Germania. Eine deutsche Marianne? Bonn 1993, S. 20.
[11] Meinhold Lurz, Kriegerdenkmäler in Deutschland. Band 1: Befreiungskriege. Heidelberg 1985, S. 177f.
[12] Charlotte Tacke, Denkmal im Sozialen Raum. Nationale Symbole in Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert. Göttingen 1995, S. 29.
[13] Hier und im Folgenden Ebd., S. 179.
[14] Gall, Germania (wie Anm. 10), S. 26.
[15] Simone Staritz, Geschlecht, Religion und Nation – Genoveva Literaturen 1775–1866. St. Ingbert 2005, S. 122; Gall, Germania (wie Anm. 10), S. 18.
[16] Cornelii Taciti, De Origine Et Situ Germanorum, 17, 1–2, Hg. und übers. von Alfons Städele. Berlin 2011; Elke Trzinski, Studien zur Ikonographie der Germania. Recklinghausen 1990, S. 66.
[17] Hans Martin Schaller, „Die Wiener Reichskrone – entstanden unter König Konrad III.“, in: Gesellschaft für staufische Geschichte (Hg.), Die Reichskleinodien. Herrschaftszeichen des Heiligen Römischen Reiches. Göppingen 1997, S. 58–89.
[18] Meinhold Lurz, Kriegerdenkmäler in Deutschland. Band 5: Drittes Reich. Heidelberg 1986, S. 214; Ders., Kriegerdenkmäler in Deutschland. Band 1: Befreiungskriege (wie Anm. 11), S. 154.
[19] Hier und im Folgenden „Fallersleben, 27. Octobr.“, in: Aller-Zeitung vom 3. November 1876.
[20] StadtA WOB, Postkarten, P-705, P-708, P-709, P-710 und P-711 (Deutsche Reichspost. Postkarte).
[21] „Schätze für Historiker gefunden“, in: Wolfsburger Nachrichten vom 28. August 1980.
[22] StadtA WOB, HA 9076, Vermerk durch Elke Wichmann aus dem Schul- und Kulturamt: Fund einer Dokumentenrolle im Denkmal der „Germania“ Ortsteil Fallersleben, 20. August 1980, S. 1.
[23] Kopien der Inhalte der Hülse befinden sich heute teilweise in der Sammlung des Hoffmann-von-Fallersleben-Museums.
[24] StadtA WOB, HA 9076, Vermerk durch Elke Wichmann aus dem Schul- und Kulturamt: Fund einer Dokumentenrolle im Denkmal der „Germania“ Ortsteil Fallersleben, 20. August 1980, S. 1.
[25] Ebd., S. 2.
Veröffentlicht am 7.11.2018