Kriegerdenkmal Mahnmal Klieversberg
Von Maik Ullmann
Winter 1944/45. Nachrichten der schnell voranschreitenden Roten Armee erreichen den Osten des „Dritten Reichs“. Berichte über Brandschatzung, Misshandlungen und Vergewaltigungen veranlassen die „Reichsdeutsche“ Bevölkerung dazu, ihre Habseligkeiten eilig auf Handwagen zu verstauen und sich einem der zahlreichen Flüchtlingstrecks in Richtung Westen anzuschließen. – Etwa 14 Millionen Menschen flohen in der Endphase des Zweiten Weltkriegs vor den vorrückenden sowjetischen Soldaten.[1] Immensen Widrigkeiten ausgesetzt, fanden 1,82 Millionen Flüchtlinge den Weg ins heutige Bundesland Niedersachsen. Wolfsburg allein zählte im Jahr 1953 etwa 13.000 Flüchtlinge und Vertriebene. Sie machten rund 40 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Entsprechend präsent waren sie auch in der lokalen Berichterstattung. So finden sich über das ganze Jahr hinweg immer wieder Artikel über Heimatabende und Treffen der verschiedenen Landsmannschaften, darunter auch über die im November in der Schillerschule präsentierte Ausstellung Deutsches Land im Osten.[2] Wie auch andernorts in der jungen Bundesrepublik sollte die darin zum Ausdruck kommende Sehnsucht nach der verlorenen Heimat vor Ort einen steinernen Ausdruck finden: Am 23. November 1953, Totensonntag, versammelten sich der Wolfsburger Allgemeinen Zeitung zufolge tausende Menschen auf dem Klieversberg, um an der Weihung des neu errichteten „Flüchtlings-Ehrenmal[s]“ [3] teilzunehmen.
Und dies „als Mahnung, niemals zu vergessen, daß der Osten deutsches Land sei“, wie Walter Kutschera, der Ehrenvorsitzende der Deutschen Jugend des Ostens, die Botschaft des Mahnmals auf den Punkt brachte.
Die Heimatvertrieben schufen sich damit eine symbolische Repräsentation der verlorenen Heimat – und dies an einem repräsentativen Ort in der Stadtlandschaft. Zugleich gedachten sie anhand des Mahnmals ihrer Toten. Beide Intentionsebenen werden über die Inschrift des Denkmals verdeutlicht, die links und rechts auf der Fassadenwand der 14 Meter hohen Stele eingearbeitet ist: „Den Toten zur Ehre“ auf dem linken, „Den Lebenden zur Mahnung“ auf dem rechten Flügel. Damit war es Symbol der Trauer und Appell zur vermeintlich rechtmäßigen Rückgewinnung der verlorenen Heimat zugleich. Diese doppelte Funktion ist für Vertriebenendenkmäler nicht untypisch. Auch daher finden sich diese nicht selten auf Friedhöfen – als Ersatz für nicht mehr erreichbare oder gänzlich fehlende Begräbnisplätze.[4] Das Wolfsburger Mahnmal hingegen steht inmitten der Natur hoch über der Stadt – und kann doch als ein solcher Begräbnisplatz betrachtet werden: Im Inneren der rechteckigen, sich nach oben hin leicht verjüngenden Stele ist eine Pergamentrolle eingemauert, auf der die 305 Namen all jener Angehörigen aufgelistet sind, die während der Flucht ihr Leben verloren.
Der „Porscheblick“ auf dem Klieversberg: Ist die Anhöhe einmal erklommen, so erstreckt sich das Panorama über das gesamte Wolfsburger Stadtzentrum und das nördlich des Mittellandkanals gelegene Volkswagenwerk. Bereits während der Planungsphase der „Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben“ wurde die Bebauung des Hanges fokussiert: Ende der 1930er Jahre mit der Entwicklung der Stadt beauftragt, sah Architekt Peter Koller auf dem Klieversberg die Errichtung einer monumentalen „Stadtkrone“ vor. „Halb Walhalla, halb Reichsparteitagsbau“, so beschreibt der Architekt Dietrich Kautt eine Planungsskizze aus dem Jahr 1938.[5] Kriegsbedingte Ressourcenknappheit verhinderte letztendlich deren Realisierung, sodass das Gelände zunächst unerschlossen blieb.
In der Nachkriegszeit war es dann der Bund vertriebener Deutscher (BvD), der die Errichtung eines Mahnmals an eben jener Stelle forcierte. Besonders die Bemühungen des Vereinsvorsitzenden Georg Bednarek verliehen der Idee im Frühjahr 1951 neuen Ausdruck.[6] Hilfreich waren dabei offenbar dessen Kontakte zu Dr. Wolfgang Muthesius, der Ehrenmitglied der eingerichteten Denkmalskommission und zugleich Liegenschaftsverwalter war. Finanziert mit Geldern der „Wirtschaft des Volkswagenwerkes“, zudem mit Spenden aus der Stadtbevölkerung, konnte noch im selben Jahr nach den Vorgaben des Architekten Joachim Guhl und des Leiters des Gartenbauamts Walter Hultsch der Grundstein für den Bau des Ehrenmals gelegt werden. – Liegt das Mahnmal auch nicht im Stadtkern, so ist es doch auf einem der prominentesten Plätze Wolfsburgs errichtet worden. Seine Sichtbarkeit unterstreicht den enormen Stellenwert, den das Ehrenmal in den frühen 1950er Jahren für die Stadtbevölkerung hatte.[7] Stephan Scholz zufolge, der eine zentrale Studien zu den bundesdeutschen Vertriebenendenkmälern verfasst hat, war ein solcher Ort der Ruhe bewusst gewählt, um ein Innehalten und Momente der Kontemplation zu ermöglichen.[8]
„Tempel oder Obelisk am Klieversberg?“, titelte das Wolfsburger Tageblatt Anfang August 1951 anlässlich der Vorstellung erster Entwürfe für des Mahnmal.[9] Tatsächlich entschied sich die Denkmalskommission damals für eine Variante der damals eigentlich nicht mehr ganz zeitgemäßen Form des Obelisken, fehlt doch dem Wolfsburger Mahnmal die pyramidenförmige Spitze.[10] Obelisken fanden vor allem zur Zeit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs ihre weiteste Verbreitung; in den 1920er Jahren kamen sie langsam aus der Mode.[11] In der deutschen Denkmalslandschaft ist der Obelisk gleichwohl eine übliche Form, wenngleich eher im Bereich der Kriegerdenkmale. Für die frühen 1950er Jahre ist er eher unüblich.
Bei näherer Betrachtung des Mahnmals schweift der Blick fast automatisch an der hellen, kalksteinernen Verkleidung gen Himmel – ohne dabei auf eindeutige Symbole zu treffen, die an Krieg, Flucht und Vertreibung erinnern. Da mit dem Mahnmal gleichermaßen der Toten der Bombenkriege in den übrigen deutschen Gebieten gedacht werden sollte,[12] hat das Denkmal einen eher offenen Charakter. Dies zeigt sich auch im Vergleich mit anderen Vertriebenenehrenmalen wie beispielsweise dem Hildesheimer Eichendorffhain, das gen Osten hin ausgerichtet ist – der verlorenen Heimat entgegen.
Allerdings sollte die Wolfsburger Stele nicht lange in ihrer ursprünglichen Gestalt bestehen bleiben: Denn die sich im Rücken der von zehn im Halbkreis angeordneten Eichen eingefassten Stele befindliche rote, 1,30 Meter hohe Ziegelsteinmauer, sollte Anfang der 1960er Jahre mit den Wappen der einzelnen Landsmannschaften versehen werden.[13] An dieser Stelle rückt erneut Peter Koller in das Zentrum des Geschehens um den Klieversberg. In seiner wiedererlangten Funktion als Stadtbaurat oblag ihm die geplante Ausgestaltung des Mahnmals. Nachdem der BvD im Herbst 1957 angefragt hatte, ob das Denkmal eine entsprechende Erweiterung erfahren könne, wurde Koller aktiv – wenngleich nicht so, wie er eigentlich sollte: Obgleich er sich einer Verfügung der Dezernentenbesprechung vom 22. November 1957 zufolge diesbezüglich an die Wolfsburger Firma Billen hätte wenden sollen,[14] veranlasste Koller – grundsätzliche Zweifel an den gestalterischen Fähigkeiten der Firma äußernd – eine Kontaktaufnahme mit dem Bildhauer Ulrich Kottenrodt. Dieser war der Sohn von Wilhelm Kotzde-Kottenrodt, mit dem Koller befreundet war. Sie kannten sich aus ihrer gemeinsamen Zeit bei der völkisch-orientierten Jugendbewegung Adler und Falken. Wie Koller hatten auch Kotzde und dessen Sohn eine nationalsozialistische Vergangenheit. Während der NS-Zeit schuf letzterer diverse ideologisch behaftete Skulpturen und genoss in Führungskreisen hohes Ansehen. Ebendieser Bildhauer wurde im März 1958 von der Stadt Wolfsburg beauftragt, die Wappen der Landsmannschaften zu erarbeiten, die ihr „Deutsches Land im Osten“ zurückforderten.[15] Nach einigen Gipsarbeitsproben [16] war sich Koller indes nicht mehr so sicher, die richtige Wahl getroffen zu haben. Ein handschriftlicher Vermerk Kollers vom September 1958 deutet dessen Unzufriedenheit mit Kottenrodts Arbeit an: „Ich erläuterte ihm, warum die Ausführung nicht passt und nicht gefällt.“[17] Ein Jahr und fünf unbrauchbare Modelle später bezog der Stadtbaurat Stellung und sprach sich für eine Stornierung des Auftrags aus, die kurz darauf tatsächlich durch das städtische Bauverwaltungsamt an den Freiburger Bildhauer versandt wurde.[18]
Nachdem in einer Besprechung zwischen dem BdV, den Vertretern einzelner Landsmannschaften und der Stadtverwaltung die letzten Einzelheiten bezüglich der Ausgestaltung des Mahnmals festgelegt wurden, konnte im Spätsommer 1960 sodann der in Wolfsburg lebende Bildhauer Peter Szaif mit der Herstellung der Wappen beauftragt werden.[19] Dabei sollte das Mahnmal zudem mit einer Texttafel erweitert werden, deren Inhalt vom 1. Vorsitzenden des BdV, dem Ratsherrn Franz Graf von Ballestrem, bestimmt wurde.[20] Eingeweiht wurden die Wappen samt Tafel weniger als ein Jahr später am 17. Juni 1961, am damaligen Tag der deutschen Einheit, der bis 1990 anlässlich des 1953 erfolgten Aufstands der DDR-Bevölkerung gegen die sowjetische Führung an jenem Tag begangen wurde.[21] Insgesamt zwölf Wappen der in Wolfsburg lebenden Landsmannschaften zierten von nun die rote Ziegelmauer hinter der Stele: Die Baltendeutschen, Memelländer, Ost- und Westpreußen, Danziger, Wartheländer, Pommern, Brandenburger, Schlesier und Oberschlesier, Sudetenländer und schließlich die Siebenbürger; sechs von ihnen mittig sowie jeweils drei weitere auf der Seitenbegrenzung.[22]
Auf der Rückseite der Stele wurde zudem das Wappen der Stadt Wolfsburg angebracht: „Ihr habt in Wolfsburg eine zweite Heimat gefunden, aber vergeßt die alte Heimat, das wirkliche Zuhause nicht!“, so die Interpretation der Wolfsburger Allgemeinen Zeitung. Tatsächlich erscheint die Erweiterung paradox, stehen sich doch Heimattreue und wirkliches Ankommen in der „zweiten Heimat“ diametral entgegen.
Einer Studie des Historikers Rainer Schulze zufolge beantworteten noch Mitte der 1990er Jahre mehr als die Hälfte der befragten Vertriebenen die Frage nach ihrer Heimat mit ihrem Geburtsort.[23] Eine endgültige Loslösung vom historischen deutschen Osten erfolgte demnach nicht – auch nicht in Wolfsburg. Mag die Anbringung des Stadtwappens auch als Zeichen der Dankbarkeit gewertet werden, ging mit der Ausgestaltung des Mahnmals dessen zweite Intention gänzlich verloren: auch der „Opfer des Bombenterrors“ zu gedenken. Besonders die Texttafel, die mit den Worten „Deutsche Bleibt Eurer Heimat Treu“ endet, lenkt die Aufmerksamkeit auf die Heimatvertriebenen. Damit reiht sich das Wolfsburger Mahnmal in die Phalanx jener Ehrenmale ein, die eine eher desintegrierende Wirkung erzielten und gegen die schon in den 1950er Jahren kritische Stimmen laut wurden.[24] Erst im März 1970 sollte mit einer stilisierten Grabplatte, die einige Meter vor der Stele in den Boden eingelassen wurde, die zweite Intention einen baulichen Ausdruck finden.[25]
Quellen:
[1] Klaus J. Bade/Jochen Oltmer, „Einführung: Einwanderungsland Niedersachsen. Zuwanderung und Integration in Niedersachsen seit dem Zweiten Weltkrieg“, in: Dies. (Hg.), Zuwanderung und Integration in Niedersachsen seit dem Zweiten Weltkrieg. Osnabrück 2002, S. 11–36, hier S. 13.
[2] „Wir Heimatvertriebene verzichten auf Rache…“, in: Wolfsburger Allgemeine Zeitung vom 20. November 1953.
[3] Hier und im Folgenden „Flüchtlings-Ehrenmal auf dem Klieversberg eingeweiht“, in: Wolfsburger Allgemeine Zeitung vom 23. November 1953.
[4] Stephan Scholz, Vertriebenendenkmäler. Topographie einer deutschen Erinnerungslandschaft. Paderborn 2015, S. 97.
[5] Dietrich Kautt, Wolfsburg im Wandel städtebaulicher Leitbilder. Braunschweig 1989, S. 44.
[6] Hier und im Folgenden „Den Lebenden zur Mahnung, den Toten zur Ehre …“, in: Wolfsburger Allgemeine Zeitung vom 21./22. November 1953.
[7] Scholz, Vertriebenendenkmäler (wie Anm. 4), S. 26; Stephan Scholz, „Denkmäler“, in: Ders./Maren Röger/Bill Niven (Hg.), Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung. Ein Handbuch der Medien und Praktiken. Paderborn 2015, S. 75–88, hier S. 77.
[8] Scholz, Vertriebenendenkmäler (wie Anm. 4), S. 68.
[9] „Tempel oder Obelisk am Klieversberg?“ In: Wolfsburger Tageblatt vom 4./5. August 1951.
[10] StadtA Wob, HA 11976, Bd. 2, Auszug aus der Niederschrift über die 13. Sitzung des Kulturausschusses am 25. Februar 1966; Ebd., Mahnmal am Klieversberg; hier: Anfrage vom 28. November 1966. Wie aus den Plänen einer möglichen Umgestaltung des Mahnmals hervorgeht, sollte das Ehrenmal mit einer Pyramide versehen werden, um ihm die Form eines Obelisken zu verleihen.
[11] Meinhold Lurz, Kriegerdenkmäler in Deutschland. Band 4: Weimarer Republik. Heidelberg 1985, S. 144.
[12] „Den Lebenden zur Mahnung, den Toten zur Ehre…“, in: Wolfsburger Allgemeine Zeitung vom 21./22. November 1953.
[13] StadtA Wob, HA 1751, Bd. 2, Arbeitsgemeinschaft des BvD und des VLD an den Rat der Stadt Wolfsburg vom 4. Oktober 1957; StadtA Wob, HA 11976, Bd. 2, Rechnung Nr.: 68/80, Betr.: Mahnmal am Klieversberg vom 14. November 1980. Die Ergänzung der Wappen mit den Bezeichnungen der einzelnen landsmannschaftlichen Gebiete erfolgte erst 1980.
[14] StadtA Wob, HA 1751, Bd. 2, Auszug aus der Niederschrift über die Dezernentenbesprechung vom 22. November 1957.
[15] „Wir Heimatvertriebene verzichten auf Rache…“, in: Wolfsburger Allgemeine Zeitung vom 20. November 1953.
[16] StadtA Wob, HA 1751, Bd. 2, An Herrn Ulrich Kottenrodt, Akad. Bildhauer, Wappen für das Vertriebenen-Mahnmal in Wolfsburg vom 24. Juli 1958.
[17] StadtA Wob, HA 1751, Bd. 2, I. Vermerk betrifft: Wappen f. d. Denkmal am Klieversberg vom 3. September 1958.
[18] StadtA Wob, HA 1751, Bd. 2, 1) Vermerk. Betr.: Mahnmal auf dem Klieversberg; hier: Anbringung von Wappen vom 20. Oktober 1959; ebd., Bauverwaltungsamt an Ulrich Kottenrodt vom 22. Oktober 1959.
[19] StadtA Wob, HA 1751, Bd. 2, Niederschrift über die Besprechung der Vertreter des BdV unter ostdeutschen Landsmannschaften mit Vertretern der Verwaltung vom 3. Februar 1960; ebd., Auszug aus der 7. Sitzung des Ausschusses für Kunstfrage vom 7. Juli 1960.
[20] StadtA Wob, HA 1751, Bd. 2, Auszug aus der Niederschrift der 10. Sitzung des Ausschusses für den Kunstausschuss vom 5. Dezember 1960.
[21] „Der 17. Juni in Wolfsburg“, in: Wolfsburger Allgemeine Zeitung vom 14. Juni 1961; „13 Wappen schmücken das Mahnmal“, in: Wolfsburger Allgemeine Zeitung vom 17./18. Juni 1961.
[22] Im Herbst 1986 bewilligte die Stadt Wolfsburg der Landsmannschaft der Russlanddeutschen die Anbringung eines Wappens am Mahnmal. Da sie in Russland nicht in einer speziellen Region lebten, hatten sie zu keinem Zeitpunkt ein entsprechendes Wappen im klassischen Sinne entwickelt. In Wolfsburg symbolisiert eine Kornähre ihre traditionelle Verbindung zur Landwirtschaft.
[23] Rainer Schulze, „‚Wir leben ja nun hier.‘ Flüchtlinge und Vertriebene in Niedersachsen – Erinnerung und Identität“, in: Bade/Oltmer, Zuwanderung und Integration in Niedersachsen (wie Anm. 1), S. 69–100, hier S. 84.
[24] Scholz, Vertriebenendenkmäler (wie Anm. 4), S. 158.
[25] StadtA Wob, HA 11976, Bd. 2, Auszug aus der Niederschrift der 52. Sitzung des Bauausschusses vom 12. März 1970.
Veröffentlicht am 7.11.2018